[AUSSTELLUNGSTEXT] Welträtsel

Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, 1899-1904, Tafel 85

Welträtsel (Floating Mountains, Breathing Glaciers)
Line Hvoslef, Maja Nilsen, Randi Nygård
Exhibition 21.04.2018 – 02.06.2018 at SCOTTY, Berlin

Im Rahmen der ersten Ausstellung des von SCOTTY organisierten Jahresthemas „Der Schein der Dinge“ zeigen Line S. Hvoslef, Maja Nilsen und Randi Nygård mehrere Arbeiten, die sich mit der menschlichen sowie nicht-menschlichen Darstellung der Natur rhizomatisch auseinandersetzen. Wenn die drei Künstlerinnen Gestalten und Motive aus der Natur schöpfen, werden in ihren künstlerischen Verfahren Geschichte, Erinnerungen, Fantasie, autobiografisches Material und spekulative Denkweisen berücksichtigt. Ihre Arbeiten verbinden auf unterschiedliche Weise Naturphilosophie (von der Antike über die mittelalterliche Wissenstradition bis zum romantischen Idealismus) mit Barockästhetik, mystischer Denktradition und Alchimie, Naturwissenschaft, abstrakter Malerei, Surrealismus oder Konzeptkunst. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen stellt die Natur für Hvoslef, Nilsen und Nygård den Hauptgegenstand ihrer Recherchen dar, dient aber auch als Medium und als philosophische sowie politische Inspirationsquelle: drei Teile ihrer künstlerischen Forschungen, die miteinander verbunden sind.

Die Rätsel des Universums
Der Ausstellungstitel bezieht sich auf das 1899 publizierte Buch des deutschen Biologen und Philosophen Ernst Haeckel (1834-1919) Die Welträthsel. Gemeinnützige Studien über monistische Philosophie. Ziel von Haeckels Werk war es, Darwins Evolutionstheorie einer nichtakademischen Leserschaft in populärer Form zu vermitteln, indem er seine monistische Sicht des Universums, nämlich sein nicht-dualistisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Materie und Geist, Körper und Geist, darlegte. Alle existierenden Dinge lassen sich von einer einzigen Substanz ableiten und bestehen aus Elementarteilchen oder „Monaden“. Laut dem Mathematiker und Philosophen Leibniz sind die Monaden „die wahrhaften Atome der Natur und mit einem Wort: die Elemente der Dinge“ (Monadologie, 3. Kapitel). Haeckel sah in dem von Darwin entwickelten Evolutionskonzept ein elementares Prinzip, das die Rätsel des Universums beantworten könnte. Andersgesagt: das Konzept war für ihn ein Grundsatz, der in der Lage war, die von Kant sogenannten „metaphysischen Fragen“ – d. h. jene Fragen, die niemand jemals beantworten würde – aufzulösen. In Haeckels Augen hat die Wissenschaft keine Grenzen und hört nie auf voranzukommen, nur ein Rätsel bleibt bestehen: der Ursprung der Weltsubstanz.

Das Buch der Natur lesen
Die von Schopenhauer und Nietzsche oft zitierte Metapher der Welträtsel entstammt einer langen Tradition. Spätestens seit Lucretius’ im 1. Jahrhundert v. Chr. verfasstem wissenschaftlichem Gedicht De rerum natura (Die Natur der Dinge) wird die Natur als eine Fläche voller interpretationsbedürftiger Zeichen gesehen, während Atome mit Buchstaben verglichen werden. Seit Augustinus im 5. Jahrhundert wurde die Allegorie des „Buches der Natur“ (liber naturae) der Nachwelt überliefert. Inspiriert von Thomas von Cantimprés Liber de natura rerum veröffentlichte Conrad von Megenberg sein Buch der Natur (1475) zum Leben der Pflanzen und der Tiere als erste in deutscher Sprache veröffentlichte Naturgeschichte. In dieser Enzyklopädie, die wissenschaftliche und mythologische Überlegungen vermischte, wurde das gesamte damals verfügbare Wissen über die Natur gesammelt. Cantimpré schrieb zwischen 1257 und 1263 sein berühmtestes Werk Bonum universale de apibus, eine Allegorie der menschlichen Gesellschaft, die aus einer Beschreibung des Lebens in einer Bienengemeinschaft besteht. Diese damals entstandenen „Bücher der Natur“ entschlüsselten die Welträtsel und enthielten viele Abbildungen, die ein Verständnis des Kosmos nicht nur mittels Text, sondern auch durch Bilder ermöglichten.

Der Spiegel der Natur
Eine andere philosophische Allegorie aus dem 13. Jahrhundert, die für die Beschreibung des Kosmos verwendet wurde, war der „Spiegel der Natur“ – speculum naturale. Der Dominikaner Vincent von Beauvais ist weithin für seine Enzyklopädie Großer Spiegel (Speculum maius) bekannt, die zwischen 1235 und 1264 geschrieben wurde. 80 Bücher mit 9885 Kapiteln sammelten das zur Erklärung der materiellen und spirituellen Ordnung der Schöpfung erforderliche Wissen. Laut der mittelalterlichen Tradition sind Spiegeln, Nachahmen und Reflektieren sowohl etymologisch als auch konzeptuell mit der Handlung des Denkens, des Betrachtens oder des Spekulierens verbundene Tätigkeiten. Um Leibniz’ Monadologie wieder zu zitieren: jede Monade, d.h. jede Mikro- oder Makroeinheit, ist ein „lebender Spiegel des Universums“. Dieses allegorische Verständnis des Kosmos verwandelte die Natur in ein Theater, das halb verschlüsselte Geschichten flüsterte und dessen Bühnenbild mit Spiegeln experimentierte. 

Ein Buch, ein Spiegel, ein Theater
In den Werken von Hvoslef, Nilsen und Nygård sehen wir Spiegel, reale oder imaginäre Landschaften. Wir sehen Pflanzen und Tiere; Meere, Berge und andere natürliche oder fantastische Figuren besetzen den Raum. Diese Bildelemente bewegen sich in einer Natur, die wie ein offenes Buch erscheint, das eine Sammlung von Bilderrätseln enthält. Einige von den Künstlerinnen verwendete Methoden und Motive könnten sogar von einem Werk zum anderen wandern und einen gemeinsamen Zirkulationsraum für alle möglichen Interpretationen schaffen. Diese Interpretationen haben heute eine besondere Verantwortung für die mögliche Zukunft des Kosmos, zum Beispiel gefährdete Tiere und Pflanzen. Zeigt sich der Galerieraum mehr wie ein Buch, ein Spiegel oder ein Theater? Wahrscheinlich wie eine Collage der drei. Jenseits aller Unterschiede zwischen Abstraktion und Figuration bestehen Hvoslefs Landschaften – vergleichbar mit Klanglandschaften – aus Formen, Bewegungen und Kräften. Durch eine Verschmelzung von Natur und Technik schließt sich Hvoslef an die von Goethes Morphologie geprägte Bildtradition ein, besonders an den Begriff der Metamorphose. Natur und Geschichte können nicht einfach getrennt werden. Ähnlich wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft arbeiten Natur und Geschichte zusammen und produzieren seltsame Mischwesen. Vergleichbar mit einer Monade inszeniert Nygårds „Spiegelcollage“ einen kleinen theatralischen Raum, der dem widersprüchlichen Schicksal des afrikanischen Veilchens gewidmet ist: diese Pflanze, die man überall kaufen kann, ist ironischerweise wegen des Klimawandels in ihrer natürlichen Umwelt vom Aussterben bedroht. Die Serie „Black Carbon Creates Clouds, Drifts in The Wind and Falls to The Ground (Iceberg, Ny-Ålesund, Spitsbergen)“ untersucht das „ozeanische Gefühl“ und macht natürliche Reliefs durch Frottagetechnik sichtbar. Aus den Gesten der Künstlerin verkörpert die Kohle auf dem Papier den ganzen Wasserkreislauf der Erde. Nilsens dreiteilige Collageserie betont wiederum ganz deutlich eine theatralische sowie ornamentale Dimension. Indem die Werke fotografische Elemente aus populärwissenschaftlichen Büchern zart miteinander verschmelzen, eröffnen die von Nilsen geschaffenen Zusammenhänge eine mysteriöse kosmische Dimension, in der Naturobjekte zu Kostümen oder Schmuckstücken werden, während zwischen künstlerischen und natürlichen Formen, menschlichen und nichtmenschlichen Welten, keine Grenzen gesetzt sind. Nilsen nimmt die etymologische Verwandtschaft zwischen Kosmos und Kosmetik sehr ernst und würdigt Haeckels Buch Kunstformen der Natur (1899-1904), dessen Lithografien und Rasterdrucke nach Skizzen und Aquarellen von Organismen erarbeitet wurden.

Ökologie der Kunst
Die hier im gemeinsamen Ausstellungsraum vorgestellte Idee der Natur ist pluralistisch und dynamisch, polyphonisch. Es ist ein Ort der Befragung und der Besinnung auf die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und ihre verschiedenen Bedeutungen. Dies betrifft nicht nur Natur und Kosmos, sondern auch räumliche, geografische, geologische sowie historische und mythologische Aspekte. Seit den Forschungsarbeiten des Biologen Jakob von Uexküll (1864-1944) zu tierischen Lebensformen ist die Biosemiotik zu einem Gebiet geworden, in dem wissenschaftliche Verhaltensanalyse, Sprachtheorie und Hermeneutik der Natur (Pflanzen, Tiere, Menschen) koexistieren. Als Begründer der Ökologie hat Uexküll mit seiner Idee der Parallelwelten Einfluss auf die Kunsttheorie ausgeübt. Für ihn gibt es so viele Welten wie Spezies, so viele Wahrnehmungen von Zeit und Raum wie mögliche Welten. Alle Tiere, einschließlich des Menschen, gestalten ihre Wahrnehmung durch Muster und schaffen so Strukturen und verschiedene Zeichen, deren Bedeutung nur für diejenigen, die Teil dieser Welt sind, verfügbar ist. Sie steht jenen zur Verfügung, die – wie Uexküll selbst – all diese Zeichen, Linien, Lücken und Wege, all diese Zeichnungen oder Architekturen aufmerksam beobachten. Es scheint, dass Hvoslef, Nilsen und Nygård hier dem Biologen nahestehen und den Wunsch nach Anteilnahme durch Beobachtung in ihrer Kunst verarbeiten.

Clara Pacquet, Berlin, April 2018