[BUCH] Signatur und „In sich selbst Vollendetes”

Signatur und In sich selbst Vollendetes. Ästhetik, Psychologie und Anthropologie im Werk von Karl Philipp Moritz, Dijon, Presses du réel, 2017. In der Reihe « Œuvres en sociétés ».

[Auf Französisch veröffentlicht, Inhaltsverzeichnis vorhanden hier]

Anhand eines intellektuellen Portraits des deutschen Schriftstellers, Psychologen und Kunsttheoretikers Karl Philipp Moritz (1756-1793) untersucht dieser Essay das Verhältnis zwischen Ästhetik, Psychologie und Anthropologie im 18. Jahrhundert und in den Debatten um die Kunst nach 1800.

Zusammenfassung
Außerhalb Deutschlands ist Karl Philipp Moritz, der bei der Herausbildung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert eine Schlüsselrolle spielte, bisher kaum bekannt. Sein eklektisches Werk verkörpert die Pluralität der Ästhetik, die seit ihrer Gründung sowohl ein Teilgebiet der Philosophie als auch eine empirische Wissenschaft, eine Theorie der Kunst sowie ein Ort der Kunstkritik und des literarischen Schreibens ist.

Als Vorläufer eines pädagogischen Verständnisses der ästhetischen Erfahrung verankert Moritz die Grundfragen der Ästhetik in einem Feld, das über die Ebene der Kunst hinausgeht und psychologische sowie anthropologische Fragestellungen einschließt. Unter seinen Zeitgenossen war er als Psychologe und Schriftsteller anerkannt. Gemeinsam mit Pockels und Maimon gründete er die erste Zeitschrift für empirische Psychologie GNOTHI SAUTON oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783-1793), in der neben Forschungsbeiträgen von Medizinern und Philosophen auch Polizeiberichte, authentische und fiktionale Autobiographien, anonyme Traumaufzeichnungen und Fragmente literarischer oder mystischer Schriften erschienen.

Bekannt wurde Moritz durch seine kunsttheoretischen Arbeiten, besonders durch die 1786 in Rom verfasste Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen, von der auch Goethe beeinflusst wurde. Nach seiner Rückkehr aus Italien unterrichtete Moritz an der preußischen Akademie der Künste in Berlin als Professor für Theorie der schönen Künste. Er prägte eine Generation von Künstlern und Theoretikern – Jean Paul, Friedrich Schlegel, Friedrich Schiller und andere –, für die in der künstlerischen Tätigkeit ein anthropologisch beschreibbarer Trieb oder eine Kraft (Bildungstrieb, Nachahmungstrieb, Spieltrieb) zum Ausdruck kommen.

Das Kunstwerk ist für Moritz gleichzeitig ein „In sich selbst Vollendetes“  und eine Signatur, d.h. die Spur einer vergangenen Begegnung mit der nachgeahmten Form. Moritz gilt als Vertreter der Autonomieästhetik. Seine Definition des Kunstwerkes versteht man allerdings nur, wenn man das Kunstwerk innerhalb des Spannungsfeldes situiert, das sich zwischen der Autonomie der Kunst und der Dokumentation der künstlerischen Geste, deren Formen nur negativ sein vermögen, auftut.

Kunstwerke sind Träger verschiedener bildnerischer Gesten, die ein Künstler, der die Natur nachahmt, ausgeführt hat. Moritz nennt diesen Prozess „die bildende Nachahmung“, denn die Bilder der Natur, denen das Kunstwerk nachgebildet ist, stehen zu diesem in einem Bezug sowohl der Ähnlichkeit als auch der Unähnlichkeit. Aus dieser Differenz ergibt sich eine „pantheistische“ Vorstellung der „Natur“, sie zwingt die Zuschauer aber auch dazu, den Weg der bloß kontemplativen Rezeption zu verlassen und eine „bildende“ Beziehung zum Kunstwerk einzugehen. Moritz’ Verdienst liegt darin, mittels einer dynamischen Definition des Kunstwerkes die Theorien des künstlerischen Schaffens und Rezipierens verbunden zu haben: Der Künstler ist ein Zuschauer der Natur, der Zuschauer wiederum ein Künstler, der seine eigene Beziehung zum Kunstwerk „schafft“.

Mit Moritz erlangt das Kunstwerk zum ersten Mal in der Geschichte der Kunsttheorie den Status eines radikal autonomen Objekts. Dennoch bleibt sein Körper fragmentarisch: Solange es nur mit der Spur einer vergangenen schöpferischen Geste assoziiert wird, deren Sein nur ein aktives, gegenwärtiges sein kann, erscheint das Kunstwerk unvollendet. Somit legt Moritz den Grundstein für die bis heute offene Debatte über die Frage, in welchem Verhältnis Geschichte und unmittelbare Erfahrung in der Kunst stehen.